03 Dez Live Review – Winterreise 2005 – Berlin
Manchmal entdeckt man doch mal wieder etwas Neues, etwas, was aus der Masse ähnlich klingender und textlich dieselben Klischees nachbetender Formationen herausragt. In diesem Falle und bei mir JANUS, deren Album Vater und Winterreise mir netterweise ans Herz gelegt wurden. Eine Mischung aus Gothic, Elektronik, Stromgitarren usw., so könnte man eine Stilbeschreibung beginnen, doch wie so oft muss man diese Musik hören, um sich ein Bild von der Eindringlichkeit des Vortrags machen zu können! Der Gesang ist bei JANUS mehr als ausdrucksstark, in Verbindung dazu gibt es provokante und/oder nachdenkliche, einfach interessante Texte.
Die Nachricht, dass JANUS sich auf Tour begeben, ließ mich dann auch gleich aktiv werden, das Ticket wurde über den Online-Shop der Band fix geordert, Spielort sollte die Zitadelle in Spandau sein. Ich musste dann doch erstmal die Stirn runzeln, als ich die Karte bekam und auf der Rückseite folgende Worte las: Bitte achten Sie darauf, während des Konzertes störende Hustengeräusche zu vermeiden. Lautes Husten beeinträchtigt die Konzentration der Künstler und den Genuss der Zuhörer. Die Dezibellautstärke eines Husters ist der eines Trompetenstoßes vergleichbar und lässt sich durch den Filter eines Taschentuchs erheblich reduzieren!? Häh? Ich wusste ja, dass ich KEIN Punkrockkonzert besuchen würde, aber war diese Notiz als Beispiel des schrägen Humors der Doppelköpfe zu verstehen?
Erst nach Erhalt der Karte wurde mir klar, dass JANUS auf dieser Winterreise gänzlich unverstärkt auftreten und die Stromgitarren zu Hause lassen, sich vielmehr auf ein klassisches Ensemble konzentrieren. Oder wie die Band selbst es sagt: Normalerweise besteht ein JANUS Liveauftritt aus literweise Schweiß, grünem Licht, dröhnenden Samples, Nebel, krachigen Gitarren und schlecht sitzenden Bühnenoutfits. Nicht so auf der Winterreise. JANUS gastieren auf der Winterreise ausschließlich in den Konzertsälen von Schlössern, Burgen und Museen. Im Stile eines klassischen Liederabends präsentieren sie ihre Musik in kammermusikalischen Arrangements mit Soundtüftler Tobias Hahn am schwarzen Konzertflügel und RIG als schwermütigem Bariton, begleitet vom Winterreise Streichquartett. Die Zuhörerschaft nimmt bequem auf ihren Stühlen Platz und kann entspannt den Klängen lauschen, genau so, wie auf einem klassischen Konzertabend.
Na, das sollte nun mal wirklich etwas anderes werden! Und tatsächlich, nach fünf Stunden Zugfahrt und ein wenig Gegurke durch old B-town bot sich schon beim Anblick der Zitadelle ein Bild, welches den Eindruck vermittelte, dass dieser Ort wie geschaffen schien, dort düstere Musik zu genießen. Die Zitadelle ist eine Festungsanlage, deren Ursprünge ins 9. Jahrhundert zurückgehen. Überall zwischen den Erkern und Zinnen finden sich Museen, Galerien, Archive; man kann das Gemäuer besichtigen und nicht zuletzt wird dort – ziemlich Gothic-kompatibel artengeschützten Fledermäusen Unterschlupf geboten. Über einen Damm ging es hinweg durch das Tor, der Weg wurde schummerig erleuchtet, das Licht spiegelte sich in den morastigen Gewässern des Burggrabens. Der Zielpunkt war schnell gefunden, säumten doch schwarz gewandete Gestalten unseren Weg, der zum Festsaal führte. Ca. 250 Plätze müssen es wohl gewesen sein, welche der steinerne Saal fasste. Die meisten Plätze waren bereits belegt, unsere Sicht daher lediglich suboptimal. Lange mussten wir nicht warten, die Zeit reichte gerade, das neue Werk Nachtmahr abzugreifen (eine beeindruckende Platte in phänomenaler Aufmachung).
Dann betraten die Musiker den Saal, spielten zunächst ohne den Sänger RIG eine Art Intro. Piano, Klarinette, Streicher sorgten für einen derart voluminösen Klangkörper, dass ich mich fragte, ob man denn wohl den Gesang überhaupt werde hören können, der ja ebenfalls unverstärkt und ohne jede technische Unterstützung blank in den Raum geschmettert werden musste. RIG stapfte in den Saal und das erste reguläre Stück Lolita markierte den Beginn von 120 Minuten musikalischen Wahnsinns. Gleich wurde klar, dass RIGs Stimme durchaus zu hören war, ja im Verlauf des Songs steigerte sich der Vortrag hin bis zu einem Gebrüll, dessen Intensität uns zusammenzucken ließ und fast von den Stühlen fegte! Es folgten viele Songs des neuen Albums Nachtmahr, welches bis auf Dorinas Bild komplett gespielt wurde (schade, dass gerade dieser Song fehlte).
Ich glaube nicht, dass ich den Vortrag von Kinderkreuzzug oder Anita spielt Cello jemals vergessen werde. Ersteres Stück ist eine Bearbeitung des Brecht-Stücks, die traurige Geschichte einer Kinderschar, die während des Zweiten Weltkriegs elternlos/verloren durch eine Winterlandschaft zieht. Das Zusammenspiel von Piano und Gesang erzeugte eine derart melancholische und doch gleichzeitig im Brecht’schen Sinne distanzierte Stimmung, dass wohl wenige Zuschauer sich einer Gänsehaut erwehren konnten. Anita spielt Cello hingegen erzählt das Schicksal der Cellistin Anita Lasker-Wallfisch, die Auschwitz und Bergen-Belsen aufgrund ihrer Begabung zu überleben vermochte.
Trotz allem Schwermut, aller Melancholie wirkten JANUS auf mich übrigens nicht elitär, wie es leider oft bei Formationen der schwarzen Szene erscheint, deren pseudo-philosophisches Geschwurbel samt platt misanthrophischer Weltanschauung bisweilen einfach nervt. Nope, RIG fiel bei Die Ruhe selbst eine Strophe partout nicht ein, was galant und humorvoll überspielt wurde: Der Sänger lehnte sich hilflos an Tobias Hahns Flügel, der trocken fragte „Na, willst du nicht weiter singen?“ und zur Antwort ein „Schon, doch ich weiß den Text nicht mehr!“ erhielt (o.ä.), wobei RIG in der Folge wieder auf die Spur fand und sich gegen Ende des Stücks in ein im donnernden Bariton geschmettertes „ICH BIN DIE RUHE SELBST“ steigerte.
Die Stimme der (Gast?)-Sängerin blieb gegen diese Stimmgewalt übrigens etwas dünn, vorne hat man sie vllt. auch besser gehört. Nach dem abschließenden Saitenspiel war Schluss, so schien es. Das Publikum sprang aus den Stühlen und applaudierte, bis JANUS zurückkehrten und diverse Zugaben spielten. Eine wirklich gelungene Veranstaltung, ich persönlich empfand es als sehr mutig, sich als sonst eher traditionell agierende Rockband (im weitesten Sinne jetzt) mal in ein solches Ambiente zu wagen. Man merkte schon, dass die Bandköpfe keine Profis auf diesem Gebiet waren, aber gerade das hatte viel Charme. Bin jetzt mal gespannt darauf, die Band in normaler Besetzung in einem stinkenden Klub zu sehen.
Philip für Dremufuestias
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