05 Feb Wie die kleinen Ängste entstanden
Liebe Leser langer Texte,
dieser hier ist für Euch. Ich habe ihn vor einigen Jahren als Produktionstagebuch geschrieben, um den Entstehungsprozess von Kleine Ängste zu dokumentieren. RIG meinte, jetzt wäre eine gute Gelegenheit, ihn zu entstauben und auf der neuen Homepage zu präsentieren. Nun denn, auf geht’s!
Es war ein milder Nachmittag im Spätsommer 2003, die Fenster im Studio waren alle weit geöffnet. Ich hörte konzentriert Aufnahmen durch, die wir am vergangenen Wochenende gemacht hatten. Eine etwas nervige Aufgabe, bei der ich mich ungern stören ließ, als das Telefon klingelte.
Es war RIG, der mich auf bekannte Art und Weise mit einem nicht enden wollenden Redeschwall überfuhr, der die Bonus CD zu unserem Album Auferstehung betraf. Diese Bonus CD sollte eigentlich aus zwei exklusiven Tracks und etwas Zusatzmaterial bestehen, das schon halb zusammengestellt war. Ich begriff nicht so recht, was RIG wollte. Allerdings ahnte ich gleich, dass er dabei war, das Konzept für die Bonus CD völlig umzuschmeißen, so dass meine Laune auf einen Tiefpunkt abrutschte und ich kurz davor war ein vernichtendes Veto einzulegen („…ist leider zeitlich nicht zu schaffen…“, die einzige Möglichkeit aus sowas rauszukommen), da fiel das das Wort „Rollenspiel“.
Ich hatte eine mehrjährige, exzessive Pen-and-Paper Rollenspielphase, deren Höhepunkt ein Kampagne markierte, die in einer mittelalterlichen Fantasywelt spielte. RIG war damals auch schon mit dabei und spielte einen schwerhörigen, namenlosen Mönch und ich seinen, mit einem dunklen Geheimnis belasteten Glaubensbruder. Gemeinsam versuchten wir im Namen unseres, offenbar schwachsinnigen Gottes, die Welt von einer tödlichen Bedrohung zu retten.
Vielleicht merkt man, das ich über meine Begeisterung dabei bin, den Faden zu verlieren. Also, meine Bedenken waren wie weggepustet, wir gingen kurz die spektakulärsten Momente der damaligen Kampagne durch, dann war ich soweit mit RIG über die Produktion einer komplett neuen MCD zu sprechen, die die ursprünglich geplante Bonus CD ersetzen sollte.
Zu dieser Zeit teilte ich mir das Studio mit Jochen Schibetz, der JANUS mit der Gitarre und auch als Koproduzent seit mehr als sechs Jahren begleitete. Da wir meistens abwechselnd im Studio waren, gehörte es zu den ersten Tätigkeiten zu checken, was der andere am Vortag so getrieben hatte. Ich zappte also Songskizzen von Jochen durch, die noch sehr roh waren und blieb an einem coolen Beat hängen. Jochen hatte dazu ein paar Sounds aufgenommen, die irgendwie JANUS Vibes verbreiteten. Ich öffnete sofort die Session und begann den Ablauf etwas umzustellen, um RIG die erste Songidee zu „Kleine Ängste“ mailen zu können.
Zwei Tage später hatte ich den Songtext im Posteingang. Damit stand der Ablauf fest und ich konnte mit der Ausarbeitung beginnen. Wir nahmen zusätzlich ein bisschen Cello auf und spielten mit Samples aus einem Kubrick-Klassiker rum. Am Denkwürdigsten war allerdings der Abend mit der damals 12-jährigen Tamara. Nachdem sie sich an die Situation im Studio gewöhnt hatte, liefen die Aufnahmen ganz hervorragend. Als wir uns dann das Resultat gemeinsam anhörten, wurde sie immer unzufriedener. RIG versuchte sie davon zu überzeugen, dass wir voll und ganz zufrieden waren. Irgendwie sagte er aber immer das falsche, und mit jedem Versuch seine Begeisterung zu bekräftigen, schien sich die kleine Tamara unverstandener zu fühlen. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass auch Tamara mit dem endgültigen Ergebnis sehr zufrieden sein wird.
Tamara singt Kleine Ängste
Das Lied „Überleben“ erfuhr, wie so oft bei JANUS, zahlreiche Metamorphosen. Eine der Versionen sah einen Schluss vor, der dem Lied eine überraschend neue Wendung geben sollte; eine opulent arrangierte Coda, für die wir auch schon zahlreiche Aufnahmen gemacht hatten. Nachdem wir feststellten, dass wir beide eben jene Coda beim Durchhören der Demos wiederholt vorgespult hatten, fiel sie dem Rotstift zum Opfer. Eigentlich wollten wir das Fragment für eine Maxi Version aufheben, fanden dann aber eine passendere Verwendung dafür: Als Ouvertüre nach dem Titelsong von Kleine Ängste. Das gefiel uns so gut, dass wir uns leichten Herzens von der Maxi verabschiedeten. Die richtige Entscheidung, denn später entwickelte sich der Schluss von Überleben selbst noch einmal anders, so dass die Coda in der endgültigen Version sowieso nicht funktioniert hätte.
Manchmal überschreiten unsere teils größenwahnsinnigen Ansprüche unsere technischen und handwerklichen Fähigkeiten so drastisch, dass in einem überfrachteten Arrangement die schönsten Aufnahmen gnadenlos untergehen. So geschehen bei einem Lied der „Hundstage“ Maxi. Wir holten uns also die Streicher aus der damaligen Session und beschlossen etwas bisher bei JANUS noch nie dagewesenes: Eine schon einmal verwendete Aufnahme zu recyclen und zu einem neuen Stück zu verwursten. Das anfängliche Unbehagen ob dieser Dreistigkeit wich schnell der Begeisterung für das neue Stück, dass die Streicher nun in neuem Zusammenhang richtig gut zur Geltung brachte.
Ich hatte damals einige Abende mit meinem alten Freund John Abdel Sayed im Studio verbracht. Wir hatten uns lange nicht gesehen und jammten für ein mögliches, gemeinsames Projekt. Es kam eines zum anderen: Erst eine fragile Klavier Loop, dann ein Beat, ein paar Bass Licks, eine verträumte Santoor Melodie und jede Menge Percussion Spuren, die John auf allen möglichen und unmöglichen Instrumenten quasi am Fließband produzierte; und schließlich ein RIG, der mir völlig aus dem Häuschen zu erklären versuchte, dass genau diese Nummer auf keiner anderen als auf der Kleinen Ängste CD etwas zu suchen hatte. Spätestens als ich den Text las, den er geschrieben hatte, war auch ich überzeugt. Er gab dem, bis dahin als Instrumental angelegten, Stück eine völlig neue Wendung, funktionierte aber so gut, dass auch John begeistert davon war. Als Sahnehäubchen spielte uns Katharina einige Cello Melodien ein, die den orientalischen Charakter des Stückes unterstrichen und das Arrangement abrundeten.
Als RIG mir später die paar Zeilen Kinderaugen-Text das erste Mal vorlas, dachte ich, er hätte zu heiß gebadet. Jedenfalls glaubte ich nicht daran, dass man aus diesem bizarren Gebrummel ein Lied würde machen können. Es brauchte viel Überzeugungsarbeit, eine Streicher Loop von Michael Nyman die er irgendwo ausgrub und eine richtig weggeplatzte Bass Session mit Rob, um mich eines besseren zu belehren. Letzterer schien viel weniger Probleme mit dem Material zu haben, als ich. Er sprang zwischen Gitarrenamps, Effektgeräten und verschiedenen Bässen hin und her, und plötzlich fügte sich das scheinbar unzusammenhängende Puzzle aus Soundschnipseln zu einer Art Song. RIG hat mir zwar noch immer nicht erklären können, wie er auf „Kinderaugen“ kam, aber die Atmosphäre dieser kleinen Horror-Episode hatte mich am Ende ganz in ihren Bann geschlagen.
Ich wohnte damals seit einem guten Jahr in der Kirchstraße und wie sich vermuten lässt, ist die dazugehörige Kirche nicht weit weg. Es handelte sich um den Sitz der Herz-Jesu-Gemeinde, welche eine besonders schöne Orgel ihr eigen nennt. Auf dem Ding wollte ich schon immer mal ein bisschen rumspielen, durfte jedoch nie, was sicherlich damit zusammenhängt, dass ich mit Kirche, außer wenn es um Musik geht, so gar nichts anfangen kann. Nach mehreren Anläufen gelang es uns, einen Termin mit dem zuständigen Organisten Edmund Sauerteig zu arrangieren, der sich ungehindert des großen Altersunterschiedes sofort auf eine Session einließ. Wir hatten einige Harmonien vorbereitet, und während RIG oben auf der Empore den Organisten die Kopfhörer mit dem Metronom überstülpte und ihn zum Improvisieren zu bringen versuchte, stand ich unten vor dem Altar mit meinen Mikros und dem DAT, und war von dem Sound in der Kirche total berauscht.
Ernüchternd war dann die Nachbearbeitung im Studio, weil Herr Sauerteig mit dem Metronom nicht so richtig gut zurecht gekommen war. Vielleicht lag es aber auch an den drängenden Einflüsterungen von RIG, der die Improvisation in diese oder jene Richtung hatte lenken wollen. Aus dem umfangreichen Material konnten wir also nur sehr wenig verwenden. Nichtsdestotrotz traf, einige Flügelhorn-Aufnahmen und ein bisschen Soundgefrickel später, die Stimmung doch genau das, was wir angepeilt hatten und konnte erst im unveröffentlichten Stück „Heimkehr“, später auf „Ein sicherer Ort“ zum Einsatz kommen.
Was führt RIG im Schilde?
Eines Tages, gegen Ende der „Kleine Ängste“ Produktion, bat mich RIG, ihm eine instrumentale Version eines Stückes zu schicken, das ich mit vier anderen Liedern für eine Art Demo aufgenommen hatte, Projektname: Leon. Der Track war auf einem alten Trisol Sampler auch schon veröffentlicht worden, und obwohl ich mich über den Wunsch wunderte, dachte ich an nichts Böses. Erst als RIG mir dann mitteilte, dass er eben jenes Stück als Abschluss für die „Kleine Ängste“ MCD verwenden wollte, ahnte ich, was er vorhatte. Zunächst lehnte ich kategorisch ab. Es half aber nichts. Bei der nächsten gemeinsamen Studiosession kam er mit dem Textblatt in der Hand wild herumwedelnd zur Tür herein, lief quasi direkt in die Aufnahmekammer und verlangte von mir, das Playback zu starten. Was sollte ich tun? Wir fällen eigentlich so gut wie alle Entscheidungen einvernehmlich, allerdings bestätigen Ausnahmen die Regel. „Die letzte Tür“ ist so eine Ausnahme. Mit Unabänderlichem muss man sich abfinden. In diesem Fall fiel mir das nach Beendigung der Gesangsaufnahmen nicht allzu schwer, denn RIGs Text passte tatsächlich perfekt zu dem taumelnden Sechsachteltakt und der Akustikgitarre.
Und so war es dann auch irgendwann vollbracht und die zerstückeltste Albumaufnahme aller Zeiten (von „All die Geister“ einmal abgesehen, aber die sind ja noch nicht fertig) war zu einem glücklichen Ende geführt worden. Im Nachhinein sind wir beide mehr als zufrieden mit dem Ergebnis. Gerade, weil „Kleine Ängste“ mit seiner entspannt-gruseligen Atmosphäre und den vielen Instrumentalpassagen so anders ist, als die normalen (???) JANUS CDs, hat es in meinem Herzen einen besonderen Platz reserviert.
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